Ein Leben lang aufwärts
Hans-Uwe Straß über das Industrieklettern im Wandel der Zeiten
Unsere Geschichte beginnt im Jahr 1978 – dem Jahr, in dem die Idee entstand, Gebäude als Seilschaft zu sanieren – und zwar ganz ohne Gerüst oder Hebebühne. Seitdem hat sich vieles verändert – aber längst nicht alles. Über die Entwicklungen, Schwierigkeiten und besonderen Momente seiner steilen Karriere als Industriekletterer hat Firmengründer Hans-Uwe Straß viel zu erzählen.
Von Zu- und Glücksfällen – oder: Wie man Industriekletterer wird
Dass der gelernte Webereifacharbeiter seine Leidenschaft für das Klettern entdecken konnte, verdankt er einzig einem Zufall. Während des Urlaubs im Zittauer Gebirge mimte er für eine Gruppe von Bergrettern das Opfer – und ließ das Seil fortan nicht mehr locker.
Eines seiner ersten Projekte als Industriekletterer für die VEB Gebäudewirtschaft realisierte Straß zusammen mit vier weiteren Mitstreitern im Jahr 1979. Die seilunterstützte Durchführung von Reparaturmaßnahmen an einem Gebäude mit 14 Stockwerken erregte landesweites Aufsehen und brachte dem Team Aufträge in der gesamten DDR ein – nicht zuletzt, weil sich das immense finanzielle Einsparpotenzial der gerüstlosen Durchführung von Sanierungs- und Reparaturmaßnahmen herumgesprochen hatte. Auch heute zählt der Aspekt der Wirtschaftlichkeit noch zu den wichtigsten Vorteilen des Industriekletterns.
Es folgten zahlreiche spektakuläre Projekte. Bei einem von ihnen wurde Straß sogar kurzzeitig Mitarbeiter der Kirche – allerdings nur, um die losen Dachschiefer der Petrikirche am Theaterplatz in 86 Metern Höhe gegen eine weniger gefährliche Dachpappe zu ersetzen.
Mehr als Papierkram: Eine DIN für das Industrieklettern
Aufgrund mangelnder rechtlicher Grundlagen für den noch jungen Beruf sollte die Gruppe aufgelöst werden. Im VEB Bau- und Montagekombinat Süd, Kombinatsbetrieb Industriebau Karl-Marx-Stadt fand das Team einen neuen Arbeitgeber, der gemeinsam mit Straß und den zuständigen Institutionen in der DDR die TGL 30341 „Ab- und Aufseilverfahren für Bauarbeiten“ erarbeitete. Im Jahr 1989 trat diese innerhalb der DDR in Kraft.
Die Norm war längst nicht seine einzige sinnvolle Entwicklung als Kletterspezialist – so optimierte er immer wieder bereits vorhandene Gerätschaften und erfand eine Trommel zum Auf- und Abspulen des Seils in besonders großer Höhe.
Seine wohl innovativste Erfindung: ein statisches Seil, das sich durch den Einsatz von Polyamidseide um maximal 3 % ausdehnt. Damit waren die Zeiten, in denen sich Industriekletterer wie Bungeespringer fühlten, endlich vorbei.
Neue Zeiten – neue Höhen: Industrieklettern nach 1990
Nach der Wiedervereinigung gründete Hans-Uwe Straß sein eigenes Unternehmen – zuerst als Ein-Mann-Betrieb, den er nach und nach um mehrere Mitarbeiter erweiterte.
Von da an ging es für den Höhenservice aber steil bergauf: Immer komplexere Projekte in immer schwindelerregenderen Höhen setzte das Team für seine Kunden um – und zu denen gehörten nicht nur Städte und Kommunen, sondern zum Beispiel auch die Seiltänzer-Familie Traber, für die Straß beim Aufbau eines 620 m langen Seils in 50 m Höhe vom Berliner Fernsehturm zum Dom mitwirkte. Sogar für den Verhüllungskünstler Christo war das Kletterteam im Rahmen der Reichstagsverhüllung tätig.
Die Frage, die Hans-Uwe Straß wohl am häufigsten gestellt wird, ist die nach dem Gefahrenpotenzial seines Berufs. Der größte Zwischenfall, von dem er dann berichten kann, wiegt 4,2 Kilogramm und steht noch heute in seinem Büro. Ein Sandsteinbrocken, der sich aus dem Turm des Kirchturms in Falkenstein löste, verfehlte nur knapp seinen Kopf und traf ihn an der Hand.
Im Jahr 2011 hat Straß die Unternehmensführung vertrauensvoll in die Hände seines Kollegen Jens Gäbelein übergeben. Als freier Mitarbeiter gehört er aber nach wie vor zur Truppe.